Im Toten Winkel

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Im Toten Winkel

Ein Film von Othmar Schmiderer

Zum Film

Traudl Junge war von 1943 bis zum Zusammenbruch der Naziherrschaft eine der Privatsekretärinnen von Adolf Hitler. Sie arbeitete für ihn im Führerhauptquartier in der Wolfsschanze, im Berghof am Obersalzberg, im Sonderzug und in Berlin. 1944 wurde sie Zeugin des mißglückten Stauffenberg-Attentats, die letzten Kriegstage und den Selbstmord Hitlers erlebte sie im Führerbunker der eingekesselten Hauptstadt. Traudl Junge war es auch, der Hitler sein "Testament" diktierte.

In Im toten Winkel äußert sich Traudl Junge erstmals öffentlich über ihr Leben, ihre Erinnerungen, Verstörungen und Selbstreflexionen. Sie spricht über ihre Kindheit in München, die Zufälle und Lebensumstände, die sie zunächst in die Berliner "Kanzlei des Führers", später als Privatsekretärin in die Wolfsschanze führten, der täglichen Routine im inneren Kreis von Hitlers Umgebung, von Tagesabläufen, deren freundliche Banalität in absurdem Widerspruch zur Vernichtungspolitik des NS-Regimes stand. Wenn Traudl Junge von den letzten Tage vor Hitlers Selbstmord im Führerbunker erzählt – ein 25minütiger Monolog ohne jeden Filmschnitt – entsteht das in seiner Eindrücklichkeit und Präsenz fast beängstigende Bild der Leere im Zentrum einer menschenverachtenden Macht, die angesichts ihrer Niederlage in sich zusammenfällt.

Im toten Winkel verzichtet auf jedes Beiwerk und konzentriert sich ganz auf die Erzählerin: die intensive, äußerste Verdichtung jahrzehntelangen, vorbehaltlosen Nachdenkens über Geschichte, Verdrängung, eigene Verantwortung und Schuld. Der Film verweigert sich jedem spekulativen Interesse an Geschichten über die Person Hitlers. Aber er enttäuscht die Sensationslust nicht: er widerlegt sie. Nach dem Krieg zur wütenden Gegnerin des Nationalsozialismus geworden, konnte sich Traudl Junge ihre damalige Naivität und Ignoranz, ihr Versagen nicht verzeihen. Die Frage nach der eigenen Verantwortung bleibt nicht akademisch, sondern wird in der schonungslosen, ernsten Erzählung, in der Mimik und Gestik der Protagonistin, in den Nebensächlichkeiten, in denen sich unvermittelt die Hauptsache zeigt, erlebbar und lebendig. In seiner Kargheit für die Leinwand gedacht und gemacht, ist Im toten Winkel ein Film zum Zu-schauen und zum Zuhören, spektakulär ohne special effects.

Zur Entstehung des Films.

Die Gespräche zwischen André Heller und Traudl Junge kamen im Jahr 2001 durch Vermittlung der Autorin Melissa Müller zustande, die zu dieser Zeit an der Herausgabe und Einleitung der von Traudl Junge bereits 1947 niedergeschriebenen Erinnerungen arbeitete. Othmar Schmiderer, der die Gespräche mit der Kamera aufzeichnete, wählte eine filmische Herangehensweise, die von wenigen Kameraeinstellungen und dem Verzicht auf zusätzliches Kunstlicht ausging. Er selbst war für Kamera und Ton verantwortlich, da so während der Begegnungen mit Traudl Junge der ausgestellte Charakter eines Filminterviews vermieden werden konnte. Die Gespräche mit Frau Junge fanden im Frühjahr 2001 in ihrer Münchner Wohnung statt. Heller und Schmiderer montierten aus dem über 10stündigen Material zunächst eine dreieinhalbstündige Fassung, die sie Traudl Junge vorführten. Während der Vorführung hatte Frau Junge Gelegenheit, vor der Kamera Ergänzungen und Korrekturen vorzunehmen. Unter Einbeziehung der neuen Aufnahmen komprimierten Heller und Schmiderer den Film schließlich auf die 90minütige Kinofassung.

Seine Uraufführung erlebte Im toten Winkel auf den Internationalen Filmfestspielen Berlin 2002, wo er mit dem Panorama-Publikumspreis ausgezeichnet wurde. Traudl Junge verstarb nach schwerer Krankheit in der Nacht des 11. Februar 2002, wenige Stunden nach der Uraufführung des Films.


Pressestimmen

"Was diesen Film so substantiell macht: Hier legt jemand Zeugnis ab, wo man es nicht erwartet hätte. Da spricht eine Frau, die keine Zuflucht in billigen Freudianismen sucht, die weder Abstraktion noch Verdrängung gelten lässt... Othmar Schmiderer fand die einzig adäquate Form dafür. Zu sehen ist nichts anderes als das schöne Gesicht einer alten Frau vor ihrem Bücherregal. Ein paar Mal sieht man sie, wie sie sich die eigenen Aufnahmen anschaut. Sie bewegt ihre Lippen, als souffliere sie sich selbst. Es ist selten, dass eine innere Stimme so unverstellt nach aussen dringt."
Berliner Zeitung

"Die Verdrängung, das kann man hier studieren, ist ein Selbstschutzmittel mit beschränkter Wirkung: Irgendwann kommt all das hoch, was man sich selbst so lang verschwiegen hat."
Die Presse

"Im toten Winkel ist ein großes Dokument... Eine junge Frau gerät ins stille Auge eines Jahrhunderttaifuns – und berichtet darüber ohne den Filter der Rechtfertigung oder Empörung. Sie legt nur Zeugnis ab. Das Entsetzen, die Trauer folgen später. Merkwürdig, dass die Metapher vom stillen Auge sich auch in der Medienlandschaft wiederholt: Spät erst hat man diese Zeitzeugin, das Gegenbild einer Leni Riefenstahl, wirklich erkannt."
Der Tagesspiegel

"Nichts lenkt von dem ab, was Traudl Junge zu erzählen hat. Die längste Sequenz dauert rund 25 Minuten. Die Kamera rückt in diesem Abschnitt immer näher an die Erzählerin – wie ein Zuschauer, der gebannt lauscht. Und genau so fühlt sich der Zuschauer im Kinosaal."
Oranienburger Generalanzeiger

"Die Wahrhaftigkeit, mit der sich diese Frau mit sich selbst und ihrer Biografie konfrontiert, macht die Stärke dieser Dokumentation aus. Die ist packend von der ersten bis zur letzten Minute. Heller und Schmiderer haben daraus einen puristischen Film gemacht, ohne illustrative Dokumentationsaufnahmen, ohne Kommentar, ohne Musik. Der Film wird vom klaren Wort und vom ausdrucksstarken Gesicht der Frau getragen. Er lebt vom Spannungsverhältnis zwischen dem Wissen Traudl Junges, die die Vergangenheit ‚bewältigt’ zu haben scheint, und der Empathie, mit der sie in die junge Frau schlüpft, die Hitler, ihren Chef bewundert hat – zwischen der weltpolitischen und historischen Bedeutung der Ereignisse und dem banalen, mediokren Alltag der Akteure. Und er macht die Atmosphäre der grauenhaften Trivialität jener Figuren nachvollziehbar, die so viel Unglück über die Menschheit gebracht haben."
Profil, Wien

"Der Schrecken wird nicht ausgewalzt, sondern auf den Punkt gebracht. Was Hannah Arendt mit der Banalität des Bösen meinte, kann sich hier ungestört entfalten, im Vertrauen auf die Urteilskraft des Zuschauers. Im Unterschied zu anderen sucht Junge nicht nach Entschuldigungen fürs eigene Versagen."
Der Spiegel

"Wenn Traudl Junge von den gespenstischen letzten Tagen im Bunker redet, 25 Minuten ohne einen einzigen Schnitt, erreicht ihre Darstellung atemberaubende Intensität. Kein Zweifel: Hier glückte, dank Diskretion, ein historisches und menschliches Dokument von Rang."
Berliner Morgenpost

"Junges Ausführungen sind oft präzise Beschreibungen von Nichtwahrnehmungen. (...) Man könnte einmal mehr Hannah Arendts Verdikt über die Banalität des Bösen strapazieren. Junges Erzählung geht jedoch über das Anekdotische, dem sie übrigens selbst mißtraut, weit hinaus. Und der Film verstärkt dies noch in vollständigem Verzicht auf historisches Bild- und Filmmaterial. Gerade so unterscheidet sich Im toten Winkel so dankenswert von den Holocaust-Voyeurismen im Umfeld von Guido Knopp und Co. Wenn Junges Erzählung in einem 35minütigen, immer detailreicheren Monolog über die letzten Sekunden vor Hitlers Selbstmord gipfelt, wird bewusst, was die Sprache der Erinnerung so sehr von jener der konventionellen Historie unterscheidet. Immer wieder gilt es, Atem zu holen; neue Details stürzen auf den Einzelnen ein: Wenn es so schwer ist, ein paar Momente in einem kleinen Raum zu beschreiben, wie redet man dann über die großen Raum-Zeit-Bewegungen, Verwüstungen und Verbrechen in Nazi-Deutschland? Wie umgeht man die gefälligen Schlagworte wie ‚Vergangenheitsbewältigung’ oder ‚Hitlers willige Vollstrecker’?""
Der Standard, Wien

"Nein, dieser Monolog ist nicht naiv, nicht direkt und unverstellt. Wir hören einer Frau zu, die viel über sich nachgedacht hat."
Die Tageszeitung

"Einer der Höhepunkte der Berlinale, ein unglaublich dichter und berührender Dokumentarfilm... Unvergleichlich authentisch ist die Landschaft von Traudl Junges Gesicht, oder besser: ihrer Gesichter. Denn so, wie sie Zeit ihres Lebens zu jenem ‚kindischen Ding’ von damals unversöhnlich auf Distanz blieb, so ist im Film zu sehen, dass sie auch während der einzelnen Drehabschnitte mit Hochspannung sich selbst gegenüber sitzt und Wache hält über die Legitimität jedes bisher erzählten Details aus ihrem Mund. (...) ‚Aber ich hätte auch nein sagen können’ – dieses Urteil kreist wie ein Unheil um die Sehnsucht nach Frieden in der Seele der Traudl Junge. Sie musste alt werden, um zu verstehen, dass Jungsein kein Entschuldigungsgrund ist. Es ist ein Geschenk, dass es jetzt diesen Film gibt, der die glaubhafte Botschaft der letzten hautnahen Augenzeugin in die Welt hinausschicken kann, aus dem toten Winkel endlich ins Licht."
Format, Wien

"Dieser Film braucht keine zusätzlichen Bilder und unterscheidet sich damit himmelweit von TV-Dokumentationen. Eine Frau erzählt ihre Geschichte, und wir folgen gebannt. Ein grandioses Dokument."
Szene, Wien

Regiestatement

Geschichte, Schuld und Verstörung
Interview mit André Heller und Othmar Schmiderer

Die Geschichte des Holocaust stellt ihre Chronisten grundsätzlich vor das Problem der Darstellungsweise. Wie kam es zu der Entscheidung, ohne Rekonstruktionen, ohne illusionistische Mittel, ohne Musik, ohne Spielszenen zu arbeiten – sondern nur mit den Erzählungen, dem Gesicht einer Frau?

Heller Ich komme aus der Tradition des Geschichtenerzählens, des Zuhörens, ich verlasse mich darauf, dass eine spannende Figur, die etwas Spannendes erzählt, kein Beiwerk braucht. Ich will beobachten, was ist eine Handbewegung, wie synchron ist einer mit seiner Körpersprache und der Geschichte, die er erzählt? Sagt mir sein linker Fuß, dass er wahrscheinlich lügt bei dem, was sein Mund gerade ausspricht? Ich wäre nie auf die Idee gekommen, die Frau Junge mit irgendwelchen optischen Nebenschauplätzen zu unterwandern. Wenn etwas nicht interessant ist, dann wird auch das Beiwerk es nicht erhöhen können. Dann ist es eben ein Bluff.

Schmiderer Die grundsätzliche Frage ist ja immer, welche Haltung man einem Menschen gegenüber einnimmt, welchen Raum man ihm zugesteht, inwieweit man einer einfachen Sprache vertraut. Es war für uns von vornherein klar, dass wir uns auf das Wesentliche konzentrieren. Dass es darum geht, wirklich hinzuhören und hinzusehen – und, was ein ganz wesentlicher Aspekt ist: beim Zusehen und Zuhören die Bilder bei einem selbst entstehen zu lassen.

Waren die Fragen an Frau Junge festgelegt? Wollte sie selbst wissen, in welche Richtung die Fragen gehen werden?

Heller Nein, ich habe gesagt, Frau Junge, ich frage Sie über Ihr Leben und Sie erzählen so viel, wie sie Kraft haben. Und sie hatte viel Kraft. Wir hatten keine festgelegten Fragen, ich hatte auch keine Fragenliste. Wir haben zu reden begonnen, wenn ich mich recht erinnere, über ihre Geburt, wo sind Sie geboren, wie war Ihre Familie... ich wusste das alles nicht. Ich habe das in diesem Gespräch zum ersten Mal erfahren. Ich hatte ihre Aufzeichnungen von 1947 gelesen, wo bestimmte Dinge nur angedeutet waren, die die Familie betreffen.

Schmiderer Das war eigentlich kein Interview im eigentlichen Sinn, sondern ein wirklich offenes Gespräch. Wir haben den technischen Aufwand auch bewußt sehr reduziert. Wir haben kein Licht gesetzt, um ihr nicht das Gefühl zu geben, sie irgendwie auszustellen, sondern versucht, diese intime Begegnung zu bewahren.

Gab es bei dieser so lückenlos scheinenden Beichte der Frau Junge bestimmte Widerstände zu überwinden?

Heller Zunächst einmal hat die Frau Junge diese Geschichte ohne den Stress erzählt, dass das jemand anderer sehen würde. Das war mein Angebot: Wir filmen es, aber es gehört Ihnen, und Sie entscheiden, ob Sie es jemandem zeigen wollen oder nicht. Man sieht dann auf dieser zweiten Ebene – wenn sie sich selber beim Erzählen beobachtet und zum ersten Mal sieht, wie sie wirkt, wenn sie etwas erzählt – dass dann der Stress bei ihr einsetzt. Aber dieser Furor, dieser Dammbruch des ersten Erzählens... Einige wenige Kritiker haben geglaubt, die hat das auswendig gelernt, oder es sei ein sensationell vorbereitetes Stück Schauspielkunst. Aber diese Frau hat sich 55 Jahre lang in ihrem Kopf mit jedem Augenblick auseinander gesetzt, diesem für sie Verstörenden, dem als Schuld Empfundenen in der Retrospektive der Zeit. Und dann ist es plötzlich wie ein Vulkanausbruch herausgekommen. Ich musste ihr nur durch Gespräche Mut machen, dass ich nicht von der Inquisition bin, sondern ein interessierter, sie achtender Mensch. Ich hab ihr meine Familiengeschichte erzählt, die ja ganz anders ist, sozusagen das andere Ende der Leitung zwischen uns. Aber eines muss man sagen, das haben wir vorher nicht gewusst: Sie ist natürlich eine begnadete Erzählerin.

Man hat den Eindruck, dass die Frau Junge die Dinge, die sie erlebt hat, für sich sehr geordnet hat – was es ihr erst ermöglicht, eine solche Erzählung auszubreiten.

Heller Jetzt wissen wir, dass diese Dinge geordnet waren. Weil es Zeit für sie war, zu gehen. Sie musste noch eines erledigen: das Geordnete aussprechen. Wir haben beim Interview nicht geahnt, dass sie ein paar Monate später ihren Abschied nimmt, und sie selbst hat es auch nicht gewusst – ihre Seele vielleicht, aber der Geist nicht.

Viele werden sich vielleicht fragen, warum die Frau Junge so lange geschwiegen hat, warum sie mit dieser inneren Last so lange gewartet hat, bis sie öffentlich wurde?

Heller Sie war der Ansicht, sie ist nicht gescheit genug, um ihre eigene Geschichte zu erzählen. Sie war zwar gescheit genug, um diese Ängste zu haben, den Krebs, die endogene Depression, das alles hat sie sich zugestanden. Aber dass sie das erlöst, indem sie es erzählt, das ist ihr lange nicht in den Sinn gekommen. Ganz im Gegenteil: Sie empfand es als gefährlich. Zweitens hat sie Angst gehabt, dass sie zu einer Wallfahrtsstätte für alte Nazis wird, dass man das missversteht. Drittens: sie hat Angst vor Journalisten. Wenn ich ein Journalist gewesen wäre, dann wäre es nie zu dem Projekt gekommen.

Schmiderer Wobei man dazu sagen muss, dass sie ja schon negative Erfahrungen mit Journalisten gemacht hat, insofern war sie natürlich sehr vorsichtig damit, wem sie sich öffnet.

Heller Das war eine Voraussetzung: dass wir unter Umständen zehn Stunden reden – was wir am Schluss dann auch gemacht haben – und dass sie es abnimmt. Wir haben das ausgesucht, was uns für 90 Minuten oder für 3 1/2 Stunden, diese zwei Versionen gab es, das Betroffen-Machendste erschien – nicht das Spektakulärste. Der Othmar hat es ihr vorgeführt, und sie hat ihr Einverständnis gegeben. Sie hat 55 Jahre gebraucht, damit es gar war, und dann hat sie dieses quasi unsichtbare, winzige Team gebraucht, in dieser winzigen Wohnung, dieses Unprofessionelle, dieses nichtjournalistische. Ich glaube, die Frau Junge hat den Film jetzt gemacht, weil wir uns für ihr Leben interessiert haben – und nicht für den Hitler. Das war für sie sehr verblüffend, weil sonst immer Leute gekommen sind, die wissen wollten: Der Goebbels, was haben Sie uns dazu zu sagen, und der Göring... Aber wir haben gefragt: Wie war es bei Ihnen zu Hause am Esstisch, als sie 14 waren? – Vieles von dem ist nicht im Film, aber das Ergebnis war ein Vertrauensklima, und das ist im Film.

Aus manchen Momenten des Films scheint sehr stark das Unbewusste aus der Frau Junge zu sprechen, eine bestimmte Verbundenheit mit dieser Situation, mit diesem Mann.

Heller Mich beruhigt das eher, dass ich von der Junge etwas von der Faszination Hitlers mitkriege. Wir schulden es uns selbst anzuerkennen, dass der äußerst wirkungsvoll war. Und die Junge ist eine der wenigen, die das zugibt. Ich habe sie gebeten zu versuchen, uns das nicht mit ihrem heutigen Wissen zu erzählen, sondern wie sie das damals erlebt hat. Und da sagt sie einen komischen Satz: Dass in der Zeit der Hitler wirklich was Großes war. – Ja, das glaube ich, dass der damals was Großes war! Als sie zu ihm kam, war der Hitler eine unvorstellbar machtvolle Figur, vor der die ganze Welt gezittert hat. Dass jetzt die ‚kleine Humps’, wie sie sich selber nennt, beeindruckt ist, wenn die plötzlich stundenlange Privatgespräche mit dem gefürchtetsten und in Deutschland zu dem Zeitpunkt geachtetsten – und teilweise auch geliebtesten – Menschen führt, das ist doch logisch.

Schmiderer Es geht ja schon im Titel des Films darum zu fragen: wo liegen die toten Winkel, auch in einem selbst. Anhand der Frau Junge, dem Prozess ihrer Aufarbeitung, sieht man ja, wo sich solche tote Winkel noch befinden. Das ist der interessante Punkt: sich diese Winkel anzusehen, bei der Frau Junge – und bei sich selbst.

Heller Und vergessen wir nicht: sie spricht über ihre Feigheit. Ich verstehe es, dass eine 22-jährige Sekretärin vom Hitler, die erlebt hat, wie die Frau eines Reichsstatthalters rausfliegt, sich nicht am nächsten Tag hinsetzt und... sie war eben keine Heldin. Sie sagt aber: "Ich kann mir nicht verzeihen – nicht dass ich nicht wie die Sophie Scholl war, sondern dass ich nicht wenigstens mehr gewusst habe. Dass ich mich nicht bemüht habe, informiert zu sein. Es wäre mir nichts passiert, wenn ich nicht zum Hitler gegangen wäre, ich hätte ja ‚nein’ sagen können." Sie sagt nicht, dass man nicht hätte wissen können, was im KZ war, sondern dass sie es vielleicht auch nicht hatte wissen wollen. Sie erspart sich diesen Vorwurf nicht. Ich habe Respekt davor, dass jemand so ernst mit den Engeln und Teufeln in sich ringt.

Dennoch – wie tritt man jemandem gegenüber, der so eng mit den Mördern zusammengearbeitet hat? Muss man sich schützen gegen den Hass, der in einem selbst hochkommen und das Gespräch beschädigen könnte?

Heller Ich hätte mir oft gewünscht, dass in meiner Verwandtschaft, die auf der Opferseite war, Menschen ihre eigene Geschichte so reflektiert hätten wie die Frau Junge. Mein Vater ist seelisch und geistig vernichtet aus der Emigration zurückgekommen, er konnte sein eigenes Dasein nurmehr mit Opium ertragen, er konnte sich, wie viele Überlebende, nicht verzeihen, dass es ihm gelungen ist, sich zu retten, während es vielen seiner Freunde und Verwandten eben nicht gelungen ist. Die Frau Junge kann sich nicht verzeihen, dass sie beim Hitler war – mein Vater, der 1958 schon gestorben ist, konnte sich nicht verzeihen, dass er überlebt hat. Ursache zweimal diese Mord- und Mörderfigur Hitler.
Eine andere Geschichte, die uns sehr beschäftigt hat, ist die Frage, wie diese Figur Hitler hier und heute in unser Leben hinein regiert. Es ist unglaublich. Es gibt keine Figur, die größeren Einfluss, mehr Weichenstellungen und Schicksalsfallgruben eröffnet hat als dieser Dreckskerl. Und wir stellen uns dem Thema natürlich auch nur, wenn uns etwas dazu zwingt, zum achtmillionsten Male darüber nachzudenken. Und wir entdecken dann immer noch hundert Aspekte, die wir vergessen hatten.

Schmiderer Wenn man sich mit der Frau Junge auseinandersetzt, dann beschäftigt man sich mit Dingen, von denen man vielleicht geglaubt hat, man hätte sie schon hinter sich. Ich habe ursprünglich gedacht, diese Geschichte wäre für mich abgeschlossen. Und eine solche Auseinandersetzung stellt einen dann selbst sehr intensiv in Frage. Wir hoffen, dass es uns mit diesem Film gelungen ist, auch den Betrachter auf irgendeine Weise in Frage zu stellen.

Heller Wir leben in Österreich gerade in Zeiten, wo der Opportunismus vieler Intellektueller und Künstler in seiner so unfassbaren Weise zum Tragen kommt, obwohl alles, was man riskiert, ein bißchen Subventionskürzung oder ein schlecht gereimtes Hohngedicht in der Kronenzeitung ist. Menschen die die gesamte Nazigeschichte kennen, wie benehmen sich die gegenüber dieser Regierung, die der Haider hypnotisiert und fernsteuert? Diese Leute gehen weiter zu den Ordensverleihungen an Künstler durch die Regierung und sitzen in den Juries... Die Ausreden sind dann: Ja, wenn ich es nicht mache, dann wird ja alles noch viel schlimmer. Diese gleichen idiotischen Sätze, die die Mitläufer in der Nazizeit gehabt haben! Ich weiß nicht, wie ich mich unter Todesbedrohungen verhalten würde, aber unter den jetzigen österreichischen Bedingungen kann man sich ein bissel Haltung, glaube ich, wirklich leisten. Die Intellektuellen sollen sich nicht zu Richtern aufspielen, sie sollen schauen, wie sie sich in ihrer Umgebung, zu ihrer Zeit benehmen.

War die Frau Junge denn wirklich so sehr ‚im toten Winkel’, abgeschnitten von jeder Information über die Wirkungsweisen und Mechanismen des Dritten Reiches? Ist das nicht möglicherweise ein Selbstschutz?

Heller Es kann sein, dass die Junge mehr gewusst hat, als sie in dem Film erzählt. Ich glaube schon, dass sie ein paar Dinge ausgeblendet hat. Gleichzeitig glaube ich aber, dass sie immer bemüht war, nichts auszublenden. Es ist ihr im Laufe ihres Lebens vielleicht nicht gelungen, sich das Ausgeblendete zurückzuholen. Das sind dann ihre eigenen toten Winkel, die blinden Flecke, die sie sich selber geschaffen hat. Aber ich glaube, in diesem Satz: ‚Ich bin feige gewesen, ich habe mich dem nicht gestellt, ich hätte mehr wissen sollen...’ – da stecken ja solche Eingeständnisse mit drin.

Nach welchen Kriterien haben Sie die Montage des Films erarbeitet?

Schmiderer Das Schwierige bei zehn Stunden Material ist natürlich, sich dem Material anzunähern, sich ihm anzunehmen, zu kürzen. Immer wieder sind wir es durchgegangen und haben uns gefragt: was ist tragbar, was ist die Essenz dieser Geschichte, vor allem auch: wie werden wir der Frau Junge gerecht? Im Laufe dieses zehnstündigen Materials gibt es natürlich eine Unmenge von Anekdoten. Man bemerkt dann die Gefahr, das Anekdotische zu sehr zu betonen, womit wir der Frau Junge vielleicht etwas unterstellt hätten, was ihr nicht gerecht wird. Als wir dann die Dreieinhalbstunden-Fassung hatten, haben wir die mit der Frau Junge zusammen angesehen und sie dabei noch einmal gedreht. Sie hatte so die Möglichkeit, sich mit ihrer eigenen Geschichte noch einmal auseinanderzusetzen, zu korrigieren und dazwischen zu gehen. Insofern ist es uns, glaube ich, gelungen, die Essenz dieses Gesprächs in neunzig Minuten zu verdichten. Der wesentliche Punkt war dabei sicher, das Anekdotische stark zu reduzieren.

Heller Ich glaube, dass der Dreieinhalbstundenfilm auch sehr gut gewesen wäre. Ich habe die Frau Junge ja gebeten, das zu erzählen, was Du das Anekdotische nennst. Sie hat Sachen erlebt, die andere nicht erlebt haben, beim Mittagessen, beim Abendessen, bei diesen langweiligen Teenächten, wo immer alle eingeschlafen sind, weil das so langweilig war mit dem Hitler, wie sie erzählt... Das wirkt dann natürlich unglaublich verharmlosend, wenn man das
stundenlang hört. Aber es erzählt auch sehr viel über diesen Mann.

Schmiderer Es ist natürlich auch um diese im ahrendtschen Sinn ‘Banalität des Bösen’ gegangen, und auch darum, dass man diese Figur Hitler nicht immer nur als Alien da draußen hat, sondern dass man diese herbeiholt.

Heller Aber das stört ja manche Leute. Auf zehn Leute, die das sehr berührt, kommt einer, der sagt, ja um Gottes Willen, ihr könnt doch aus dem Hitler keinen Menschen machen. Aber das war er. Und gerade deswegen macht mich das sehr viel mehr betroffen. Das ist der Bruder Hitler, dieser Massenmörder. Das geht uns natürlich sehr viel mehr an, als zu sagen: der war keiner von uns.

Hat es für die Wirkung des Films eine Rolle gespielt, dass mit Frau Junge eine weibliche Repräsentantin dieses Systems Zeugnis ablegt? Hat das für Sie die Perspektive geändert?

Heller Das spielt eine ganz wichtige Rolle, dass uns eine Frau da etwas erzählt. Sie hat auch eine wirklich subtile Wahrnehmung. Oft habe ich gedacht, interessant, an der Stelle hätte ein Mann vielleicht woanders hingeschaut. Und wenn sie spricht, über seine Unfähigkeit, sich hinzugeben! Da gibt es jetzt, ich weiß nicht, fünf Bücher über Hitlers Sexualleben. Und dann kommt die Frau Junge und sagt: der war einfach nicht fähig zur Hingabe. Aus, erledigt! Braucht man nicht mehr zu diskutieren, ob der schwul war oder sadomasochistisch oder was auch immer.

Sehen sie sich mit dem Film in einer bestimmten Tradition des Dokumentarfilms, auch im Sinne einer filmgeschichtlichen Aufarbeitung des Holocaust?

Heller Wir waren uns schnell einig, dass das ein unverschnörkelter Film sein muss. Der Othmar Schmiderer ist ein minimalistischer, karger, unverschnörkelter Film-Mensch. Ich bin eher das Gegenteil, eine barocke, ausufernde Wucherungsphantasie. Der Othmar Schmiderer war sozusagen ein Ordnungsruf für mich, ein Meister der Genauigkeit und Kargheit, der sagt: lass dir Zeit, schau noch länger hin, bleib noch 10 Sekunden drauf, wo ich schon ein bisschen ungeduldig geworden bin... Das war sehr gut.

Schmiderer Ich tue mich mit Kategorisierungen schwer. Es gibt natürlich tolle Beispiele, die man nicht an sich vorüber gehen lassen kann, wie Claude Lanzmann und viele andere. Aber bei jedem Thema muss man sich doch grundsätzlich und jedes Mal aufs neue fragen, wie man der Sache am nächsten kommt, was die Wahrheit ist, was die Wirklichkeit ist. Hier war uns von vornherein klar, dass dies nur in der Reduktion auf die Frau Junge liegen kann.

Begriffe wie Wahrheit und Wirklichkeit sind natürlich im Dokumentarfilm problematische Begriffe.

Schmiderer Keine Frage. Die Frau Junge ist, glaube ich, ein Beispiel dafür, über die Geschichte zu reden – auch wenn der eine oder andere Winkel vielleicht nicht wirklich aufgeht: Aber die Bereitschaft, sich grundsätzlich auseinanderzusetzen und zu differenzieren, das ist wesentlich – auch für diesen Film.

Heller Es geht um die Geschichte einer Person, die sich durch Nachdenken verändert hat, die bereit war, was zu lernen, die ihre Lebenszeit genutzt hat, um sich was bewusst zu machen. Und wie sie dann ihre Erfahrungen, ihre Dämonen und ihre Nöte losgelassen hat – dann hat sie nach ihrer eigenen Aussage auch das Leben losgelassen und sie hat sterben können. Davor war es nicht möglich. Für mich ist die Frau Junge jemand, vor der ich Respekt habe, so wie ich immer Respekt davor habe, wenn jemand Lehren aus der Geschichte, aus der eigenen Geschichte zieht. Weil mir das selten begegnet in der Gesellschaft, in der ich lebe.


Das Interview führte Stefan Grissemann im März 2002 in Wien

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