Der Kick

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Der Kick

Ein Film von Andres Veiel

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In der Nacht zum 13. Juli 2002 misshandeln die Brüder Marco und Marcel Schönfeld und ihr Bekannter Sebastian Fink den 16jährigen Marinus Schöberl. Täter und Opfer kennen sich. Sie kommen aus Potzlow, einem Dorf 60 Kilometer nördlich von Berlin. Die Täter schlagen über Stunden hinweg auf ihr Opfer ein. In einem Schweinestall muss Marinus in die Kante eines Futtertrogs beißen. Nach dem Vorbild des Bordsteinkicks aus dem Film American History X tötet Marcel sein Opfer durch einen Sprung auf den Hinterkopf. Die Täter vergraben die Leiche in einer nahegelegenen Jauchegrube. Vier Monate später werden die Überreste von Marinus Schöberl gefunden.

Der Regisseur Andres Veiel und die Dramaturgin Gesine Schmidt haben sich über Monate auf Spurensuche nach Potz-low begeben. Sie sprachen mit den Tätern, Dorfbewohnern, Angehörigen von Opfer und Tätern und studierten Akten, Verhörprotokolle, Anklage, Plädoyers und Urteil des Gerichtsprozesses. Die Ergebnisse ihrer Recherche verdichteten sie zu einem filmischen Protokoll für zwei Schauspieler. Der Kick versucht, den Strukturen und Biographien hinter der Tat eine Sprache zu geben. „Es geht darum“, sagt Andres Veiel, „über das Entsetzen hinaus Fragen zuzulassen, Brüche auszuhalten und einen Bruchteil zu verstehen.“

Susanne-Marie Wrage und Markus Lerch spielen die fast 20 Rollen des Films mit beeindruckender Präzision und Intensität. Schauspieler und dargestellte Person behaupten keine Identität. Die Inszenierung verzichtet auf vordergründige Illustrierung, Licht und Kameraarbeit schaffen einen Resonanzboden für den Text – und das Schweigen. In der Verschränkung filmischer Mittel mit solchen des Theaters, von nüchterner Darstellung und Fiktionalisierung geht Der Kick an die Grenzen des dokumentarischen Genres. Es wird möglich, sich mit dem Unfassbaren zu befassen.

„Es ist mutig, wenn Filmemacher einem solchen Ereignis seinen spektakulären, anekdotischen Aspekt nimmt, um auf seine Essenz zurück zu kommen. (...) Diese Reduktion auf das Essentielle hat eine radikale ästhetische Entscheidung zur Folge. Der Kunstgriff, nicht mehr als zwei Schauspieler im Film spielen zu lassen, scheint sich dem Wirklichen zu entziehen. Aber das täuscht, denn die Wirklichkeit setzt sich nach ihrer Dekonstruktion oft viel besser wieder zusammen. Ein solches Vorgehen ermöglicht eine neue Lesart, die neue Ergründung des Sinns der Ereignisse. Der Weg, den der Regisseur eingeschlagen hat, verschreibt sich der Mischung verschiedener Genres, bis an die Grenzen sogar seiner eigenen Kunst. Aus dieser Überschreitung ist ein kraftvolles Werk entstanden, das die notwendige Frage nach den Grenzen zwischen dem Fiktionalen und dem Wirklichen stellt.“ (Grand Prix Visions du Réel, Jurybegründung)

Der Kick

Susanne-Marie Wrage
Markus Lerch
Ein Film von Andres Veiel

Regie Andres Veiel Kamera Jörg Jeshel bvk Zweite Kamera Henning Brümmer Schnitt Katja Dringenberg Ton Titus Maderlechner Mischung Martin Steyer Ausstattung Julia Kaschlinski Redaktion Meike Klingenberg, Wolfgang Bergmann Produzentin Brigitte Kramer Eine Koproduktion von nachtaktivfilm mit Journal Film Volkenborn KG und ZDFtheaterkanal

Pressestimmen

„Die Verfilmung von Der Kick gibt Gelegenheit, an einer einzigartigen Reise ins Herz der Finsternis teizunehmen. Und das, was dort in der tiefsten Dunkelheit leuchtet, ist – fast obszön – die Kunst.“ Berliner Morgenpost

„Das Konzept geht auf. Die Entpersonalisierung der oftmals erschütternden Aussagen schafft Distanz, sorgt dafür, dass man den Blick nicht abwendet und die Worte nicht am Filter der eigenen Vorurteile abprallen. Veiel, der bei seinen Recherchen bewusst keine Kamera dabeihaben wollte, zeichnet ein umfassendes Bild des sozialen Mikrokosmos, aus dem heraus das Verbrechen entstanden ist. Er liefert keine Erklärungen, aber er spricht trotz allem Verständnis das Dorf, das zusah und schwieg, nicht von Schuld frei. Niemand wird geschont. Die Bewohner von Potzlow nicht, aber auch nicht das Publikum, dem der Weg der einfachen Distanzierungen versperrt bleibt.“ Der Tagesspiegel

„Veiel wollte seinen Film karg halten. Der Text allein sollte Bilder in die Hirne der Zuschauer brennen, und das tut er. Jedes Mehr an filmisch Dargestelltem hätte die entsetzlich präzisen Szenen im Kopf wieder verwischt.“ Junge Welt

„Veiels Experiment geht auf, auch dank der wunderbaren Präzision der beiden Schauspieler, und das auf sehr eindrucksvolle Weise. (...) Es gelingt ihm tatsächlich, einen Blick in das gesamtdeutsche Herz der Finsternis zu werfen. Egal, ob ein Großvater zitiert wird, der im Zweiten Weltkrieg mit ansehen musste, wie die Russen vor seinen Augen seine Eltern erjängten, oder ob Marinus_ Eltern sich wundern, dass niemand etwas bemerkt haben will, als ihr Sohn durchs Dorf getrieben wurde. Die Gewalt ist bei Veiel immer schon vorher da. Sie schält sich nicht nur aus der Sozialpathologie dieses Ortes, sondern aus der eines ganzen Volkes und seiner Geschichte. Sie hockt irgendwo im Bühnendunkel, immer noch diffus, aber groß und schrecklich bereit.“ Taz

„Die beiden herausragenden Darsteller _ Susanne-Marie Wrage und Markus Lerch – kennzeichnen durch geringfügige Gesten und Modulationen der Stimme die Figuren. Doch der Zuschauer kann im Kino den Blick nicht schweifen lassen, ist dem ausgesetzt, was der Regisseur für ihn ausgewählt hat: bei Veiel immer wieder die Großaufnahme der Gesichter. (...)
Wie immer öffnet Veiel den historischen Raum, zeigt auch hier die lange Schleifspur von Demütigung und sozialem Abstieg in den Lebensläufen. Veiel verfügt über andere Reflexe als den des psychologischen Willens zum ‚Verständnis’.“ Berliner Zeitung

„Indem er mit sparsamen Mitteln die erschütternden Eindrücke in den Köpfen der Zuschauer entstehenlässt, erweist sich Veiel nach seinen preisgekrönten Filmen Black Box BRD und Die Spielwütigen erneut als ein Meister seines Fachs. Wenige Großaufnahmen genügen, ein zitterndes Kinn, ein Satz, der vom „Totmachen“ spricht. (...) Veiel hat einen radikalen Weg gewählt. Statt Antworten zu geben wirft er Fragen auf. Und verweist jenseits des Grauens auf die Möglichkeit, dass am Ende einer Kette von sozialen Demütigungen der gängige Hinweis auf Alkohol, Arbeitslosigkeit und Nach-Wende-Trauma nicht mehr greift.“ Financial Times

„Nach diesem Film hat man das Gefühl, einer Wahrheit nahe gekommen zu sein, die jenseits des Sagbaren liegt.“ Berlin-Brandenburgisches Sonntagsblatt

„Wie Veiel mit Originaltexten umgeht, und wie die beiden Schauspieler sie präsentieren, ist spannender als mancher Thriller. Der Zuschauer geht durch die Hölle. Die Bilder entstehen in unserem Kopf, und sie sind schrecklich. Wir blicken in den Abgrund einer Gesellschaft, die das, was sie sich so hart erarbeitet hat, allmählich wieder verliert: ihre Zivilisiertheit.“ Schwäbische Zeitung

Regiestatement

Raus aus dem Monsterkäfig

Interview mit Andres Veiel

Was hat Sie veranlasst, sich mit den Ereignissen von Potzlow zu beschäftigen?

Während des Prozesses wurden die Täter auf kalte, unberührbare Monster reduziert, rechtsradikale Täter ohne Reue, ohne Reflektion. Das ganze Dorf stand unter dem Generalverdacht, die Tat zu decken. In den Medien und aus der Politik wurden formelhaft die üblichen Klischees als Ursache der Gewalt zitiert: Perspektivlosigkeit, Alkoholismus, Arbeitslosigkeit. Schon beim zweiten Blick auf den Fall wird deutlich, dass diese schnellen Zuweisungen nicht weiterhelfen. In den meisten Debatten wurden die Täter in einen Monsterkäfig gesperrt. Ich wollte sie da von Anfang an herausholen. Wir müssen uns die Täter als Menschen vorstellen. Wir geben ihnen eine Biographie. Das ist die eigentliche Provokation.

Das hat immer etwas Beängstigendes, aber auch etwas Befreiendes. Die Täter kommen aus einem Elternhaus, wie es Hunderttausende in diesem Land gibt. Zwei der drei Täter hatten eine Perspektive: Sie hatten gerade eine Lehre begonnen. Dieser normal-unheimliche Hintergrund macht die Tat so bedrohlich und rückt sie gleichzeitig sehr nah an jeden von uns heran. Es ist in Potzlow passiert, aber Potzlow ist, fast, überall.

Im Vergleich zu den neueren rechtsextremistischen Gewalttaten ist der Potzlower Mord singulär. Aber unsere Tiefenbohrung versucht, eine Art Werkzeugkasten zur Analyse der anderen Fälle zu liefern. Anders gesagt: Wenn man sich mit der Frage „Was kann man tun gegen rechte Gewalt, was kann man ändern“ auseinandersetzt, muss man sich erst einmal mit einem Fall kompromisslos beschäftigen. Das haben wir versucht.

Wie sah die Recherche aus?

Von September 2004 bis April 2005 sind die Dramaturgin Gesine Schmidt vom Maxim Gorki Theater und ich regelmäßig in die Uckermark gefahren. Wir haben Fragen gestellt, den Tätern, den Freunden des Opfers, den Dorfbewohnern.

Am Anfang wollte niemand mit uns reden. Selbst der Dorfpfarrer, bei dem wir vermuteten, er sei der Brückenkopf in die Außenwelt, hat gesagt: Bleiben Sie bitte in Berlin. Wir wollen hier niemanden. Da hatte bereits die Presse- und Medienwelle einen deutlichen Flurschaden hinterlassen. Es ist schnell von einem faschistoiden Dorf die Rede gewesen. Das ist ein Teufelskreis: Da wird ein ganzes Dorf erst mal mit dieser Tat in Verbindung gebracht Die Dorfbewohner ziehen sich zurück, sind wütend und verletzt und verschließen sich. Und das ist für viele Journalisten wieder eine Bestätigung: Es ist noch viel schlimmer, da redet niemand, die verdrängen alles.

Wir konnten über Monate Vertrauen bei den Beteiligten aufbauen. Dabei machten wir die Erfahrung, dass es ein Bedürfnis gibt, zu sprechen. Es existiert diese Ambivalenz zwischen dem Schweigen, dem Verhüllen, und dem Wunsch, dann doch darüber zu reden. Wir haben unsere Gesprächspartner Ernst genommen. Das widersprach ihrer Erfahrung, nicht mehr gebraucht – und damit auch nicht mehr gehört zu werden. In unseren Gesprächen war dann bald von der angeblichen Dumpfheit und Nicht-Reflektion nichts mehr zu spüren.

Geholfen hat uns dabei, dass wir sehr viel Zeit hatten. Uns ging es nicht ums sofortige Verwerten. Wir sind zu den Eltern der Täter dreimal ohne Aufnahmegerät hingegangen und haben mit ihnen gesprochen und zugehört. Erst beim vierten Mal haben wir gewagt, überhaupt ein Tonband aufzustellen.

Wir wollten uns zum einen mit dem Dorf beschäftigen, zum anderen auch mit den Täterbildern, die öffentlich entworfen wurden. Können die Motive auf einen rechtsradikalen Nährboden reduziert werden? Unweigerlich berührt man damit auch ein Stück deutscher Geschichte. Dieses Dorf ist ja nicht nur ein Dorf, das so ist, wie es ist, sondern es hat auch eine Geschichte. Da gibt es Wurzeln, da gibt es Vorbilder, da gibt es Großeltern. Das Opfer wurde von den Tätern als Jude bezeichnet. Marinus sollte zugeben, dass er Jude ist und wurde daraufhin zusammen geschlagen. Es gab eine Menge von Versatzstücken historischer Zitate. Wir haben uns dafür interessiert, was die Täter, aber auch deren Eltern davon wissen.

Welchen sozialen Hintergrund sehen Sie für die Ereignisse in Potzlow?

Der Mord an Marinus Schöberl hat für mich auch eine politische Dimension. Indem über die Tat gesprochen wird, wird damit auch die Frage nach Verarbeitung von Wendeerfahrungen thematisiert. Wenn man den Fall Potzlow nimmt, dann fällt zunächst eine ökonomische und eine daraus abgeleitete soziale Verkarstung auf. Von ehemals 700 Arbeitsplätzen der LPG sind zwei übrig geblieben. Es gibt zu wenig Lehrstellen. Man muss wegziehen, um etwas zu werden. Schulen werden zusammengelegt, dörfliche Sozialerfahrungen fallen auseinander. Im Dorf findet nichts mehr statt. Das führt zu einer Monopolisierung der Jugendkultur, eine Richtung setzt sich durch, und das ist oft die rechte. Die politische Jugendkriminalität ist in strukturschwachen Regionen um 20 bis 30 Prozent höher als anderswo. Es gibt eine eindeutige Korrelation zwischen einer ökonomisch bzw. sozial vernachlässigten Region und einer auffälligen Zunahme von Jugendkriminalität. Doch die ökonomisch-soziale Verkarstung alleine erklärt die Tat nicht. Nur der älteste Bruder Marco Schönfeld war beruflich ohne Perspektive. In der Schweiz gab es übrigens einen ähnlichen Fall. Die Täter hatten alle Arbeit und kamen aus geordneten Verhältnissen.

Zu welchem Material hatten Sie Zugang?

Die meisten Gespräche haben wir selbst mit den Protagonisten geführt. Die Mutter von Marinus war zu dem Zeitpunkt, als wir mit der Recherche begannen, schon gestorben. Wir konnten in diesem Fall auf die Aufnahmen zurückgreifen, die die RBB-Journalistin Gaby Probst mit ihr gemacht hatte. Neben diesen Gesprächen haben wir die Verhörprotokolle von Marcel Schönfeld verwendet. Sie heben sich sprachlich deutlich von den übrigen Gesprächen ab. Sie wurden von einem Protokollanten verfasst, der bei den Verhören anwesend war. Marcel musste sie am Ende der Verhöre auf Richtigkeit prüfen und unterschreiben. Es ist eine merkwürdige Mischung von Amtsdeutsch und Zitaten von Marcel. Dazu kommen Gerichtsprotokolle, also Mitschriften aus dem Prozess, Anklageschrift und Urteilsverkündung, aber auch die Predigt des Pfarrers. Sie bilden einen weiteren Kontrast zu den umgangssprachlichen Gesprächsprotokollen.

Wir haben die einzelnen Gespräche in sich gekürzt, thematisch Ähnliches zusammengeführt, Doppelungen und andere Redundanzen herausgenommen, manchmal etwas Mundart reduziert. Wichtig war uns, dass der Sprachkörper einer Person an sich erhalten bleibt. Wenn man sich genauer damit beschäftigt, merkt man, wie unterschiedlich jeder spricht. Da ist nichts austauschbar. Überraschend ist die sinnliche, manchmal fast poetische Qualität mancher Protokolle.

Was hat Sie dazu bewogen, die dokumentarische Recherche in eine Inszenierung münden zu lassen?

Für mich war von Anfang an klar: Ich wollte nicht den Bordsteinkick naturalistisch nachinszenieren. Das fände ich absurd und obszön. Wenn ich Gewalt nur zeige, bin ich schockiert oder fasziniert – woher sie kommt, habe ich deshalb noch lange nicht ergründet. Wir versuchen, dasselbe Phänomen in verschiedenen Sprachebenen zu sezieren. Das heißt, ein Verteidiger, ein Staatsanwalt, ein Kriminalbeamter spricht eben anders als ein Täter. Manchmal gibt es sogar innerhalb des Dorfes ganz unterschiedliche Einfärbungen, so dass scheinbar gleiche Inhalte durch die Sprache zu etwas vollkommen anderem werden. Ich wollte ganz bewusst auf vordergründige Illustration verzichten und konzentriere mich auf die Sprache. Es ist in diesem Sinne eine karge Geschichte, die die Bilder im Kopf des Zuschauers entstehen lässt.

Bei Der Kick sind Schauspieler und dargestellte Person nicht mehr eins, sondern viele. Diese Form der De-Personalisation hat mich sehr gereizt. Ich hatte mit Susanne-Marie Wrage und Markus Lerch zwei herausragende Schauspieler, die mit minimalen, subtilen Mitteln die verschiedenen Rollen akzentuiert darstellen können. Sie spielen fast 20 Rollen, vom Täter bis zur Mutter des Opfers, dem Pfarrer und dem Bürgermeister. Durch diese Art der Darstellung entsteht Distanz. Nur so ist es möglich, sich in ein Ursachengestrüpp analytisch hineinbegeben zu können. Dabei lassen wir weder die Schrecken der Tat aus, noch verharmlosen wir den Fall. Im Theater sind solche abstrakten Form selbstverständlicher als im Film. Gerade deshalb hat es mich vom ersten Probentag an gereizt, diese radikale Form in einen Film zu transplantieren.

Wie sehr bewerten Sie das dokumentarische Material durch Ihre Bearbeitung?

Ich würde sogar fast von einer Fiktionalisierung sprechen... Wir bewerten durch die Auswahl der Texte und die Montagetechnik. Zum Beispiel die Mutter des Opfers, die ein ausländerfeindliches Ressentiment formuliert, wodurch deutlich wird, dass man mit dem Begriff „Rechtsextremismus“ gar nicht weiterkommt. Sie zeigt erstmal das auf, was flächendeckend vorhanden ist: Fremdenfeindlichkeit. Es gibt nicht nur eine kleine gewaltbereite Gruppe, sondern es gibt die Mitte der Gesellschaft, die das trägt. Die Auswahl der Texte kreist die Tat ein, indem eigentlich von etwas anderem gesprochen wird: von der alltäglich gegenwärtigen Gewalterfahrung im Dorf und in der Familie. Das fängt nicht am Abend der Tat an, sondern 60 Jahre vorher. Der Großvater der Täter musste mit erleben, wie seine eigenen Eltern von den Russen ermordet wurden. Das erklärt den Mord an Marinus Schöberl nicht. Und dennoch muss man sich auch damit befassen.

Je länger wir uns mit einer Arbeit beschäftigen, desto rauer, widersprüchlicher und offener sind die gewonnenen Erkenntnisse. Diese Erfahrung einer komplexen Wirklichkeit, die sich nicht thesenhaft erfassen lässt, versuche ich weiterzugeben. Der Zuschauer ist selbst gefordert, sich aus den Angeboten etwas zusammenzudenken. Vielleicht liegt in dieser Offenheit der Aufbereitung der eigentliche Kern von „Wahrhaftigkeit“. Wir behaupten nicht: so ist es gewesen. Es wird nichts bebildert. Lediglich die Sprache der jeweiligen Personen ist „authentisch“. Wir arbeiten mit Klarnamen.

Wann ist die Idee entstanden, einen Film daraus zu machen?

Ich habe bei den Proben für das Stück manchmal gemerkt, dass ich sehr nah an die Schauspieler herangegangen bin, quasi in Naheinstellungen gedacht habe. Das funktioniert für die Bühne nicht. Man muss im Theater immer einen großen Raum bespielen, also in Totalen denken. In diesem Moment war für mich klar, dass ich mit dem Stoff auch einen Film machen will. Die erste Idee war: Mit der Kamera will ich die mikroskopische Feinstruktur des Textes herausarbeiten. Ich wusste, dass ich damit eine scheinbar gleiche Geschichte neu erzählen kann. Was im Theater Leere ist, füllt im Kino die Leinwand. Der Film holt die Schauspieler nah ran, zeigt ihr Gesicht als Landschaft. Damit wird auf einer ganz anderen Ebene erzählt. Wir arbeiten im Film mit einem Augenaufschlag, einem Zucken der Mundwinkel, mit dem Zittern einer Hand.

Mit welchen Überlegungen sind Sie an die filmische Umsetzung gegangen?

Als wir über die Auflösung nachdachten, ist meine anfängliche Euphorie in bezug auf Großaufnahmen erst mal gründlich erschüttert worden. Der vielfache Rollenwechsel im Stück funktioniert sehr stark über den Körper. Kleine Akzentverschiebungen in den Schultern, der Kopfhaltung, der Position der Hände schaffen eine komplett neue Figur. Dafür braucht es die Totale – vor allem dann, wenn der Schauspieler die Rolle, die er verkörpert, nicht ansagt. Doch auch außerhalb der Rollenwechsel haben wir uns gefragt, ob die Reduktion auf ein Gesicht nicht irritierend ist. Wird der Zuschauer dann nicht von Eigentümlichkeiten des Schauspielers abgelenkt, wie etwa den sichtbaren Poren seiner Haut, der Frisur – all das bleibt ja bei allen Rollen gleich. Kann der Zuschauer in den Naheinstellungen die Rollen auseinander halten? Dringt man als Zuschauer damit gar nicht zur Rolle vor, sondern bleibt beim Schauspieler hängen, der etwas verkörpern will?

Bei der filmischen Inszenierung haben wir sehr auf reduzierte Mimik und Gestik geachtet. Letztendlich haben wir auf diese Weise auch die Großaufnahme gerettet. Wir sehen eben kein Grimassenstudio. Sondern da wird ein Gesicht zur Landschaft einer entwurzelten, verstörten Seele. Das hat mich interessiert. Ich wollte aus dem Korsett der Theater-Totalen ausbrechen. Dafür muss ich dem Kino-Zuschauer, der nicht mehr die Entscheidungsfreiheit hat, innerhalb der Totalen selbst auszuwählen, etwas anderes bieten. Wir haben Pausen gesetzt, Blicke verlängert, das Schweigen zelebriert. Darin entfaltet sich ein anderer Subtext der Figuren. Damit funktioniert der Film vollkommen anders als das Stück, er bekommt einen anderen Rhythmus. Wir öffnen einen anderen Resonanzboden.

Die Halle, in der wir gedreht haben, kann je nach Lichtführung unterschiedliche Räume im Kopf des Zuschauers öffnen. Er kann die nüchterne, betonierte Härte eines Verhörraums abbilden, er kann an den Tanzsaal einer verlassenen Dorfgaststätte erinnern, er kann sich in den sakralen Raum einer Kirche verwandeln oder den Stall assoziieren. Wir haben für den Dreh Strukturen in den Wänden oder im Gebälk des halbrunden Dachgiebels sichtbar werden lassen, die im Theater im Schwarz abgesoffen sind. Das Theater reduziert den Raum, im Film öffnen wir ihn. Dazu kommt die Tonebene, die immer unterschätzt wird. Ich habe mir schon während der Dreharbeiten überlegt, dass wir nicht mit Musik arbeiten, sondern nur mit Geräuschen klanglich etwas entwickeln werden. Der Ort war dafür eine riesige Fundgrube. Es hört sich an, als ob es zufällig auftretende Geräusche sind, aber es ist nichts dem Zufall überlassen worden.

Sie haben sich bereits in früheren Filmen im Spannungsfeld von Film und Theater bewegt. Was interssiert Sie daran?

Theater hat immer etwas Vorläufiges und Offenes, weil es in jeder Probe, in jeder Vorstellung korrigiert werden kann. Deshalb ist gutes Theater trotz seiner Abstraktion sehr nah dran am Leben. Es ist in diesem Sinne eine komplementäre Form des dokumentarischen Arbeitsprozesses. In Winternachtstraum, Balagan und den Spielwütigen mische ich Theaterszenen mit dokumentarischem Material. Ich glaube, dass das Theater neben den klassischen dokumentarischen Methoden wie Beobachtung und Interview eine weitere Möglichkeit ist, über Menschen, die sich im Leben – und dazu gehört die Bühne – inszenieren, etwas Neues zu erfahren. Die Bühne ist der Ort, wo alles passieren kann, was im Leben verboten ist. Damit stellt sich der Begriff des Authentischen auf den Kopf: Im Schutz der Rolle kann ein Protagonist in „wahrhaftige“ Dimensionen vordringen, in die er sich „privat“ nicht getrauen würde.

Und noch etwas anderes finde ich im Verhältnis Bühne und Film befruchtend. Die Bühne ist ein abstrakter Raum, die ich auf das Wesentliche reduzieren, ihn sogar komplett entkernen kann. Filmregisseure wie Lars von Trier haben erkannt, dass dieser theatrale Minimalismus ihnen hilft, sich auf den Kern ihrer Geschichte zu konzentrieren. Wenn jemand eine Tür öffnet, brauche ich keine reale Tür. Ich konzentriere mich ausschließlich auf die Handbewegung des Schauspielers und sein überraschtes Gesicht über das, was er im Raum antrifft.

Im Kick gehe ich noch einen Schritt weiter. Die Stimmen der Täter, der Opfer und des Dorfes verschmelzen in einem oder zwei Körpern. Das ist für mich filmisches Neuland gewesen. Dass diese radikale Form im Film so gut funktioniert, hat mich selbst überrascht. Ich glaube, dass das mit der „authentischen Kraft“ des Filmes zu tun hat. Der Film gibt mir meinen Blick vor, ich kann schwerer entkommen. Ich muss im wörtlichen Sinne näher hinschauen. Ich glaube, dass der Film in diesem Sinne das stärkere Medium ist.

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