SEHNSUCHT
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Helden des eigenen Lebens – Interview mit Valeska Grisebach
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Welche Idee stand für Sie am Anfang von ‚Sehnsucht’?
In meinem ersten Film, Mein Stern, ging es um den
Augenblick an der Schwelle zum Erwachsensein, der oft unverblümt voller Versprechen und Möglichkeiten
ist: Wenn ich mal groß bin... Für Sehnsucht hat mich der Moment
interessiert, wenn schon ein bisschen mehr Zeit abgelaufen ist,
wenn man mittendrin ist in diesem erwachsenen Leben. Und der Hunger bleibt
oder wieder erwacht, weil die Sehnsüchte ja vielleicht nicht kleiner
werden. Vielleicht war Sehnsucht die Überschrift für mich, weil
es ein Ausdruck für so etwas Großes ist, so etwas wie eine
positive, schöpferische Kraft, die einem die eigene Beschränkung
oder so etwas wie Verlust vor Augen führen kann. Unendlich und gleichzeitig
Ausdruck, Entsprechung der Endlichkeit.
Am Anfang der Arbeit stand eine assoziative Recherche
unter dem Stichwort „Sehnsucht“,
die später im Schreiben der Geschichte mündete. Wichtiger Teil
waren ungefähr 200 Interviews, die ich mit Frauen und Männern
um die Dreißig geführt habe, die ich auf der Straße angesprochen
habe. In den Gesprächen ging es darum, wie man sich als Kind oder
Jugendlicher die Zukunft vorgestellt hat, und wie das erwachsene Leben
um die aktuelle Lebenssituation nun aussieht: Womit verbringt man konkret
seine Zeit. Was sind Sehnsüchte, Träume und Wünsche?
Mich haben diese Interviews sehr berührt, weil zum Teil wild, zum
Teil auf sehr lakonische Weise soviel Sehnsucht im scheinbar geordneten
Leben steckte. Manchmal offen, manchmal geheim, manchmal aber auch plötzlich
ausgelebt. So etwas wie eine Brise, dass jeder der Star seines eigenen
Lebens ist. Ich hatte den Eindruck, dass Liebesgeschichten oft die Bühne
für Sehnsüchte werden. Hier sollen Wünsche in Erfüllung
gehen und das Aufregende passieren, das einen lebendig macht.
Diese Recherche war für mich ein wichtiger Schritt auf dem Weg,
diese Geschichte zu schreiben. Vielleicht um so etwas wie einen allgemeinen
Moment zu finden, wie ein Gefühl, das einen begleitet.
Wie ist die Geschichte von ‚Sehnsucht‘ entstanden?
Ich habe für die Geschichte nach einem dramatischen Moment gesucht,
der Ausdruck der Sehnsucht wird: wo plötzlich etwas reißt,
das Gerüst nicht mehr hält. Ein Ereignis, das nicht mehr rückgängig
zu machen ist, wo so etwas wie Schicksal passiert.
Die in den Interviews gewonnenen Eindrücke haben sich verbunden
mit einer Geschichte, die ich in einem kleinen Dorf in Frankreich gehört
hatte. Ein Ort, in dem die Leute eher verschlossen wirkten, als würde
man sein Herz nicht auf der Zunge tragen. Im Haus gegenüber wohnten
ein Maurer und seine Frau. Ihn sah ich ab und zu, wie er das Haus verliess,
um zur Arbeit zu gehen. Ein ganz normaler Typ. Über ihn wurde mir
erzählt, dass er sich eines Tages auf einer Dienstreise in eine andere
Frau verliebte. Durch einen blöden Zufall fand seine Frau das heraus
und verliess ihn. Dieses ganze Situation, so erzählte man sich, hat
er nicht verkraftet und sich dann aus Verzweiflung mit einer Schrotflinte
für die Hasenjagd ins Herz geschossen haben. Aber er hat es überlebt.
Mich hat an dieser Geschichte besonders berührt, dass an diesem
Ort, an dem die Leute nach außen so ungerührt waren, sich ein
Einzelner plötzlich auf so melodramatische Art und Weise inszeniert,
sein Gesicht zeigt. In meiner Phantasie war er damit ein romantischer
Held, und die Narbe an seiner Brust wie ein Orden, den er trägt.
Besonders und tröstend fand ich die Ironie des Schicksals, dass er überlebte.
Ich fand das irgendwie irrational gerecht: Seine Tat entsprach der Gewaltigkeit
der Situation –trotzdem gut, dass er danach weiterleben konnte.
Ich mochte diesen lakonischen Moment, der fast wie ein Augenzwinkern ist.
Man will sterben – und dann, einen kurzen Augenblick später,
schmiert man wieder sein Pausenbrot und geht zur Arbeit. Ich mochte an
der Geschichte, dass sie schlicht war wie ein Lied, wie ein Countrysong.
Etwas, das man sich erzählen kann, wie die Kinder am Ende des Films.
Warum spielt ‚Sehnsucht‘ auf dem Dorf, auf
dem Land?
Mir ging es vor allem um eine Art von Reduktion, auch
wenn die nur in der Phantasie des Zuschauers passiert. Der Schritt in
eine vielleicht zeitlosere, altmodischere Welt, die man vielleicht mit
dem Begriff Dorf verbinden kann. So wie das Dorf im Film erzählt
wird, hat das mit einem realen Dorf relativ wenig zu tun. Es ging darum,
eine Bühne für die Geschichte zu finden, auf der man auf das
Grundsätzliche hin erzählen kann: der Mann, die Frau, das Haus,
die Straße.
Wie haben Sie Ihre Hauptdarsteller gefunden?
Ich wollte Darsteller finden, die mit mir gemeinsam die
Geschichte auf die Beine stellen, die Geschichte erleben würden.
Ich war nicht von vornherein darauf festgelegt, mit nicht-professionellen
Schauspielern zu arbeiten. Das hat sich dann ergeben. Ich dachte, dass
gerade dieser Film durch die Zusammenarbeit mit Darstellern, die ihre
Erfahrung, ihr Wissen und ihre körperliche Präsenz in eine fiktive,
melodramatische Geschichte einbringen, an Schärfe und Präzision
gewinnen kann. Protagonisten, von denen man es nicht gewohnt ist, sie
im Film, als Hauptdarsteller zu sehen. Auch um einen Ausdruck dafür
zu finden, dass jeder Mensch alles empfinden, jeder Mensch ein Held, die
Hauptfigur eines Filmes sein kann.
Ein halbes Jahr hat unsere kleine Castingtruppe nach
Darstellern gesucht. Wir haben dabei nicht auf äußerliche Merkmale
wie „blond“ oder „dunkel“ geachtet, sondern auf
eine gewisse Ausstrahlung. Bei dem Mann sollte ein ruhiger, jungenhafter
Typ gefunden werden, der nicht gleich alles von sich preisgibt. Bei seiner
Frau ging es darum, dass sie ein mädchenhafter, aber sehr willensstarker
Typ ist. Unter solchen Vorgaben haben wir bei unseren Ausflügen über
Land, aber auch in Berlin, auf Feuerwehr- und Dorffesten oder in Shopping
Malls Leute angesprochen und zu Gesprächen nach Berlin eingeladen.
In der letzten, ausführlichen Phase des Castings
war es für die Darsteller und mich wichtig zu klären, ob wir
uns zutrauen, gemeinsam dieses Abenteuer zu erleben, ob man sich in irgendeiner
Form von Phantasie trifft. Dabei ging es auch um Belastbarkeit, ob man
es miteinander aushält. Das ist wie mit professionellen Schauspielern
auch. Der Begriff Laiendarsteller ist überhaupt missverständlich.
Man könnte denken, das sei ein Trick: Man holt sich ein paar Leute
von der Straße, stellt sie in einen Film, und dann dann hat das
schon so seinen Effekt... Das ist aber nicht so. Es ist mir wichtig, dass
die schauspielerische Leistung verstanden wird, die sich unsere drei Hauptdarsteller
in dem langen Casting erarbeitet haben. Sie wollten etwas ausdrücken,
sie hatten eine gute Intuition, und sie haben sich wirklich etwas getraut.
Wie sah Ihre Arbeit mit den Darstellern aus? Gab es eine
ausführliche Probenphase?
Die Probenzeit verteilte sich über zwei Monate und
hatte viel damit zu tun, dass die Darsteller die Geschichte quasi „auswendig“ lernen,
darin heimisch werden. Damit meine ich nicht das Auswendiglernen von Text – das
versuche ich zu vermeiden, da ich oft das Gefühl habe, dass es das
Hirn verknotet und den gesunden Menschenverstand ausschaltet. Es geht
darum, vertraut miteinander zu werden, eine Vorgeschichte zu basteln,
Menschen und Orte kennen zu lernen. Ich versuche wiederholt die wichtigsten
Szenen des Films durchzugehen, damit sie später wie Erlebnisse, die
man nachstellen kann, abrufbereit da sind. Von da aus passierte der Sprung
in die Dreharbeiten, nach Zühlen, einem kleinen Dorf in Brandenburg,
wo wir herzlich aufgenommen und unterstützt wurden. Viele Zühlener
spielen im Film mit und haben sich voller Einsatz beteiligt.
Wie wichtig ist Ihnen die Kontinuität in Ihrem Team – etliche
Mitarbeiter waren ja schon bei Ihrem Debütfilm ‚Mein Stern‘ dabei?
Wichtig ist das Team, das das Ganze mit trägt. Jeder
einzelne ist dabei gefordert, nicht nur seiner professionellen Arbeit
nachzugehen, sondern sich auch persönlich einzulassen. U.a. mit dem
Kameramann Bernhard Keller und der Ausstatterin Beatrice Schultz habe
ich schon bei Mein Stern zusammen gearbeitet. Wir haben gemeinsam versucht,
an diese Arbeit anzuknüpfen.
Mit welchen Überlegungen sind Sie an die filmische
Umsetzung gegangen?
Die Auflösung sollte etwas Unauffälliges und
Schlichtes haben. Der Film sollte in seiner ganzen Erzählweise umgangssprachlich,
alltäglich daher kommen, skizziert in festen und bewegten Einstellungen,
dazwischen tableauartige Bilder, die das Allgemeine, Modellhafte der Situation
betonen. Es sollte nicht zuviel Absicht in den Bildern liegen. Eine ruhige,
epische Kamera, die den Eindruck vermeidet, in diesem Moment an diesem
Ort live dabei zu sein, sondern versucht, sich eher mit dem „Zeitlosen“ zu
verbinden. Es ging immer wieder um das Wechselspiel von Nähe und
Distanz; der strenge Bildrahmen als Widerstand gegenüber dem „Dokumentarischen“.
Gleichzeitig sollte die Kamera den Schauspielern genug Raum gewähren,
sich zu bewegen.
Wir wollten wieder auf Film drehen, um das Altmodische
der Geschichte zu betonen. Hauptmotive sollten zwei kleinere Ortschaften
in Brandenburg sein. Orte, die noch nicht vollkommen „instand gesetzt“ und
nur teilweise saniert wurden. Man sieht dort in einem Dorf verschiedene
Epochen ganz lakonisch nebeneinander. Das ist wie eine Zeitreise, es ist
möglich, Unterschiedliches zu assoziieren: Das altmodische deutsche
Dorf, die DDR, das Neue, Moderne, den „Westen“, der sich darunter
gemischt hat. In der Auswahl der Motive und über die Auflösung
haben wir immer wieder versucht, das Überschriftenhafte, „Zeitlose“ zu
finden; das Haus z.B. sollte „das Haus“ sein.
Wie sehen Sie in Ihrem Film das Verhältnis von Fiktion
und Wirklichkeit, Realismus und Melodram?
Auch während des Drehs ist es für mich wichtig,
immer wieder zu sehen, was von außen hereinkommt, den Zufall zu
suchen und die Geschichte damit zu konfrontieren. Der Dreh ist der Augenblick
zu erleben und herauszufinden, was in diesem Moment, an diesem Ort, mit
diesen Menschen, mit dieser Erzählung möglich ist, alle Zutaten
in Verbindung zu bringen. Manchmal geht es darum, sich absichtlich einer
möglichst realen oder ungeplanten, unsicheren Situation auszuliefern,
wie als Sparringspartner der Phantasie. Eine Begegnung mit der Geschichte
und allen Beteiligten. Und dann muss man den Ball fangen. Der Augenblick
erzeugt eine Inspiration.
Der Realismus entzieht sich wieder dem Melodramatischen
und Märchenhaften, und setzt ihm eine sperrige Rauheit als Widerstand
entgegen. Ruppigkeit und Lakonie. Auch die Körperlichkeit von Darstellern
und Orten spielt dabei eine Rolle, ihr „Sein“. Dinge, die
man nicht erfinden kann, als Erinnerung an die Wirklichkeit, das „Nicht-Gestaltete“,
Atmosphäre, die sich dem Melodramatischen wieder entzieht, es im
guten Sinne banalisiert. Kitschig gesagt: Jeder Mensch ist der melodramatische
Held seines Lebens.
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